Die Felsspalte kommt sehr häufig an den Opferstätten vor. Neben dem männlichen Stein, einem Koloß, gab es einen Durchgang oder Durchschlupf, der weiblichen Charakter hatte. Auch in Gurk bei der Verehrung der hl. Hemma spielt ein Stein und eine Spalte eine nicht unwesentliche Rolle. Dieser Volkskult um die hl. Hemma hat sich wahrscheinlich früh, vielleicht schon bald nach ihrem Tode um 1045, herausgebildet. Dabei kommen nach unserer heutigen christlichen Sichtweise heidnische vorchristliche Ausdrucksformen volkstümlicher Heiligenverehrung zur Anwendung. Hierher zählt einmal das Setzen von sich nach Fruchtbarkeit sehnender Frauen auf dem Serpentinstein dem sog. Hemma-Stein in der Krypta. Nach der Legende hat sich der Stein für Hemmas Sitz Sitz „wachs- gleich“ (instar cerae) von selber so geformt[i]. Nach meiner persönlichen Einschätzung handelt es sich bei dem Stein um ein schön geformten Kolk[1] aus Serpentinstein. Nach der Legende soll Hemma auf diesem Stein sitzend den Bau der Klosterkirche überwacht haben. Der Stein stand früher vor dem Dom und befindet sich in der südöstlichen Ecke der Krypta. Auch heute glauben noch viele Besucher an die Ausstrahlung dieses Wundersteines, und lassen sich auf ihn nieder.
Das zweite Mysterium betrifft unmittelbar das Grab der hl. Hemma in der hundertsäuligen Krypta unter dem Dom. In den Legenden wurde berichtet, daß der Sarkophag mit dem sterblichen Überresten der Heiligen von Engeln getragen werde. Auch sollen unter dem Steinsarkophag in früheren Zeiten die, besonders am Kraina-Freitag (→ vierter Freitag nach Ostern), hierher gepilgerten slowenischen Frauen, Mütter und Mädchen durchgekrochen sein – als wollte man Heil aus der Berührung mit dem Sarge der Heiligen gewinnen, sich von der dort überströmenden Kraft sozusagen „aufladen“ zu lassen. Domprobst Kochler lies daraufhin in den Jahren 1720-21 die seitlichen Einschlupflöcher vermauern.[ii]Vergleichbares findet man in der Michaelskirche zu Bamberg, dort kann man auch heute durch die schmale Öffnung unter dem Hochgrab von Bischof Otto I. (1102 – 1139) betend durchkriechen bzw. auch in der Domkrypta zu Freising zwischen Nonosius-Grab und Steinwand. Als 1925 der Hemma-Sarkophag samt seinen romanischen Tragsäulen aus der Zeit vor 1174 wieder sichtbar wurde, erkannte man plötzlich, an einem Frauenkopf, daß der Sarg wirklich, wie das Volk es behauptete, „von Engeln getragen“ war.
Oft bringt ein Stein das männliche und weibliche Prinzip symbolisch zugleich zum Ausdruck. Das Durchkriechen sollte heilend auf Leib und Seele wirken, die Berührung mit dem Stein ist, wie man aus obigen Ausführungen sieht, heilsam. Der Hinweis auf die Hoffnung nach der Wiedergeburt ist nicht zu übersehen.
Ein uraltes Zeichen einer Kultstätte sind künstliche oder natürliche, schalenartige Vertiefungen im Stein. Auch sie sind sehr oft anzutreffen und geben zweifellos Hinweise auf ein Opferritual. In die Schale legte man wertvolle Geschenke an die Gottheit. Die Frage, warum die Menschen geopfert haben, ist nicht einfach zu beantworten.
Ethologische Untersuchungen in archaischen Gesellschaften[iii] die der Frage nachgingen, welches Interesse bzw. welches Gesetz der zwangsläufigen Erwiderung von Geschenken durch den Beschenkten zugrunde liegen, ergaben zwei wesentliche Feststellungen:
- Das Geben von Dingen erfüllt in erster Linie eine soziale Funktion
- Es besteht eine Verpflichtung des Gebens, eine Pflicht des Annehmens und schließlich eine Verpflichtung zur Gegengabe.
Eibl-Eibelsfeldt berichtet diesbezüglich von einer Begebenheit in Kathmandu, wo er einer Verehrung eines heiligen Steines beiwohnte. Nach dem der Stein, er symbolisierte die hinduistische Gottheit Shiva, beschenkt, geschmückt und bemalt war, wurde die Farbe wieder, im Sinne einer Gegengabe, vom Stein genommen und damit die eigene Stirn bemalt. Ebenso verfuhren die Menschen mit den zuvor dargebrachten Blumen[iv]. Umgangssprachlich sagt man: ich gebe dir, damit du mir gibst. Ich suche mir die Gunst der Gottheit durch ein Geschenk, ein Opfer, zu erwerben. Die Art des Opfers ist vielfältig und reicht bis zum Menschenopfer. Das Kostbarste aber ist der Mensch selber, das einer Familie der Erstgeborene. Davon berichtet uns schon die Bibel in der Geschichte von Abraham. Aber nicht das Blut des Opfers hat die erlösende Kraft, sondern die Hingabe und Liebe.
„Richte den Stein auf und du wirst mich finden“, lautet ein geheimnisvoller Vers im apokryphen Thomasevangelium. Abraham hat den Stein aufgerichtet, ebenso Isaak. Josua richtete beim Einzug ins Heilige Land zwölf Gedenksteine auf (→ Jos 4,1 – 5,1) → Masseben[2] heißen diese aufrechten Steine der Bibel. Wenn die zwölf Steine in Jericho als Erinnerungssteine bezeichnet werden, ist das zu wenig. Es sind Malzeichen – und noch viel mehr. Sie wurden zweifellos nicht an einer beliebigen Stelle errichtet, sondern an einem schon vorher geheiligten Platz.
Die nachfolgenden Altäre aus römischer Zeit und Kultur gleichen den Masseben, nur sind sie, weil späteren Ursprungs, kantiger und haben oben eine gerade Fläche. Sie sind schlank und nicht so groß, wie wir uns heute einen Altartisch vorstellen. Manchmal steht in der Nähe oder vor der Massebe eine Opferschale in Fels gehauen. Der hohe Stein ist männlich, die Schale weiblich. Man pflegte sie mit Öl oder Blut zu salben. Die vier Ecken (Hörner) der späteren Altäre sind vielleicht die Überbleibsel der Eckmasseben.
Die Menhire[3] sind die Verwandten der semitischen Masseben. Ihnen vorausgegangen sind wahrscheinlich die heiligen Pfähle, die bestimmte Stellen in der Landschaft als kraftgeladen bezeichnen. Menhire sind männlich und haben mit Leben und Tod zu tun. In der Bretagne stehen kilometerlange Reihen von Menhiren, einzelne sind so hoch wie ein Kirchturm. Wahrscheinlich wurden anfangs solche Steine genommen, wie man sie gerade vorfand, später wurden sie dann sorgfältig behauen. Bei den in Deutschland als Hinkelsteine[4] bezeichneten wurden manchmal noch Knochenreste der Opfer gefunden und sie stehen in der Nähe von Grabstätten. Waren es nun Grabsteine oder Grenzsteine? Das Wort Hinkel dürfte auf Hühner zurückgehen, die dort geopfert wurden.
[1] Begriff aus der Geomorphologie, bezeichnet eine durch Evorsion entstandene Vertiefung im Gestein (→ meist in Loch-, Topf- oder Wannenform bzw. als Nischen an den Seitenwandungen). Zu größeren Ausformungen kommt es besonders in Klammen, bei Wasserfällen, steileren Gefällstrecken, etc.
[2] aus dem Hebräischen, bezeichnen kultische Steinpfeiler → Stelen, als Wohnsitz oder Repräsentation der männlichen Fruchtbarkeitsgottheit in den altsemitischen Religionen, im ET teils für Jahwe in Anspruch genommen (→ Gen 28,10 ff.) teils bekämpft (→ Dtn 16,22), manchmal auch in der Funktion als Grab-, Grenz- und Erinnerungssteine.
[3] von bretonisch maen-hir und bedeutet eigentlich langer Stein, und bezeichnet bis zu 20m hohe Steine von kultischer Bedutung.
[4] wohl volksetymologische Umdeutung von Hünenstein zu Hühnerstein → mhd. hinkel = kleines Huhn
[i] Kretzbacher, Leopold, Verehrung der hl. Hemma aus volkskundlicher Sicht, in: Hemma von Gurk – Katalog zur Kärntner Landesausstellung1988, Carinthia Universitätsverlag, Klagenfurt, 1988, S. 109
[ii] Ginhart, Karl, Grimschitz B., Der Dom zu Gurk, Krystall Verlag, Wien, 1933
[iii] Mauss, Marcel, Die Gabe, Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1968
[iv] Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, Grundriß der Humanethologie, 2. Auflage, Piper, München, Zürich, 1986, S. 462
Bildquellen
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